Serie zum 100. Augstein-Geburtstag - Teil 4 (stark gekürzt) "Der Zug ist abgefahren"

SPIEGEL-Titel 46/2002: "Wenn ich weg bin, bin ich weg"
Foto: DER SPIEGEL

Mit der Wiedervereinigung erfüllt sich Augsteins großer Traum. Am Ende verliert der Herausgeber die Kontrolle über seine selbstbewusst auftretende Redaktion. Doch sein kritischer Journalismus prägt den SPIEGEL über seinen Tod hinaus.

Zum entscheidenden Krach kam es nach einem Kommentar Olaf Ihlaus Anfang Dezember 1994. Der Leiter des Bonner Büros hatte für den Einsatz der Bundeswehr im Bosnienkrieg plädiert: Die Deutschen dürften nicht weiter abseitsstehen und zusehen, so hieß es in dem Kommentar, wie "die Opfer der großserbischen Expansion vertrieben oder getötet werden".

Im nächsten Heft folgte Augsteins Antwort auf Ihlau: "Wer immer >feste druff< schreit, gilt automatisch als Balkan-Fachmann", schrieb der Herausgeber. Und weiter: Die Deutschen täten gut daran, vor der "Verwicklung in undurchsichtige Konflikte" und der Anhäufung neuer "Leichenberge" zurückzuschrecken. Zweimal schon im 20. Jahrhundert hätten sie schreckliche Kriege begonnen.

Außenminister Joschka Fischer - Augsteins neuer Antipode

Der Herausgeber blieb jedoch seiner stets regierungskritischen Linie treu. Bundeskanzler Gerhard Schröder warnte er wenige Monate nach dessen Amtsübernahme in einem Kommentar, "ein Journalist" könne "Freund des Politikers auf Dauer nicht sein". Mit anderen Worten: Bei aller Sympathie für den Hannoveraner dürfe dieser nicht mit Schonung rechnen.

Außenminister Fischer, Kanzler Schröder 1998
Foto: Marco Urban

"Er betet nun an, was er immer bekämpft hat, den Kriegskapitalismus." Rudolf Augstein über Joschka Fischer

Augsteins neuer großer Antipode war allerdings nicht Schröder, sondern dessen Außenminister Joschka Fischer. Der grüne Vizekanzler vertrat fast ausnahmslos Positionen, die der Herausgeber ablehnte, ob es Fischers Eintreten für internationale Missionen der Bundeswehr war, für den deutschen Militäreinsatz im Kosovo oder die Aufnahme der Türkei in die EU. Fischer, das einst "größte Schimpfmaul gegen den verbrecherischen Krieg der USA in Vietnam", wie Augstein am 18. Oktober 1999 in einem Kommentar schrieb, sei in seiner "Hybris" zum blinden Gefolgsmann der Amerikaner geworden: "Er betet nun an, was er immer bekämpft hat, den Kriegskapitalismus."

Nicht immer hatte Augstein mit seinen Meinungen recht behalten, der Irrtum, das wusste er, gehört zum Berufsrisiko jedes Journalisten. Aber vieles von dem, was er schrieb und tat, wies über den Tag hinaus: in erster Linie natürlich sein erfolgreicher Kampf gegen jede Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit, nicht nur im Zuge der SPIEGEL-Affäre. Dann seine beharrliche Kritik an all jenen, die die deutsche Einheit zu den Akten legen wollten. Auch seine Zweifel an der Sinnhaftigkeit von Auslandseinsätzen deutscher Soldaten wurden immer wieder bestätigt, zuletzt mit dem Desaster der Bundeswehr in Afghanistan und Mali. Selbst sein Widerstand gegen die Einführung des Euro hat sich nicht einfach erledigt, nur weil es heute kein Zurück mehr geben kann: Die Geburtsfehler der Gemeinschaftswährung sind längst unbestritten.


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